Ist es gewaltvoll?

Ist es gewaltvoll Sexualität zu unterbinden?

Was ist gewaltvoll – was ist Gewalt? Ursprünglich dachte ich mir, es wäre eine gute Idee, diesen Beitrag mit einer Frage zu beginnen und diese dann anschließend zu beantworten. Ich halte es immer noch für eine gute Idee, aber einfach habe ich mir das Schreiben nicht gemacht, wie ich gerade feststelle. Denn so offensichtlich, wie die Antwort auf diese Frage erscheint, es ist tatsächlich alles andere, als einfach sie zu beantworten. Ich frage mich, ob sie objektiv tatsächlich beantwortbar ist, oder ob Gewalt eine subjektive Erfahrung ist. Wie es oft ist, wenn einem die Antworten noch fehlen, ist es wohl auch hier am besten, diese Frage durch noch mehr Fragen und scheinbar offensichtliche Antworten zu klären. So ist es vielleicht möglich, durch das Dickicht der „scheinbar offensichtlichen“ antworten auf den Grund des Problems zu stoßen.

Was ist also Gewalt? Ist es Gewalt einer Person Verletzungen durch körperliche Einwirkung zuzufügen? Die Antwort auf diese Frage scheint recht einfach. Ist es Gewalt einer Person durch böse Worte seelische Verletzungen zuzufügen? Auch hier wirkt die Antwort doch sehr naheliegend. Ist es Gewalt, wenn einer Person Schaden zugefügt wird, indem ein essenzielles körperliches Bedürfnis nicht gestillt wird, wie etwa wenn einer Person Nahrung oder Wasser verweigert wird? Auch hier möchte man meinen, die Antwort wäre recht einfach. Ja- das alles ist Gewalt. Gewalt, die zu schweren Traumata führen kann und die Personen lange noch, nachdem die Gewalteinwirkung scheinbar vorbei ist, begleitet. Gewalt behindert uns. Gewalt behindert unser Potenzial uns zu entfalten. Oft bleibt sie lange unser Begleiter, bis wir es schaffen, diese Erfahrung zu überwinden und uns frei machen von dem, was uns unterdrückt.

Gewalt, so wird in J. Galtungs Werk „Strukturelle Gewalt“ skizziert, liege dann vor, wenn sich Menschen aufgrund von äußeren Einwirkungen somatisch und geistig nicht so entwickeln können, wie ihr Potenzial es zuließe. „Gewalt ist das, was den Abstand zwischen dem Potenziellen und dem Aktuellen vergrößert oder die Verringerung dieses Abstandes erschwert.

Mit diesem Wissen im Hinterkopf stelle ich nochmals die Eingangsfrage. Ist es gewaltvoll Sexualität zu unterbinden? Auch wenn mir jetzt klar ist, wie ich diese Frage beantworten würde, so klar fällt die Antwort erfahrungsgemäß bei dieser Frage nicht aus. Vor allem wenn die Frage so gestellt wird: Ist es gewaltvoll Sexualität bei Personen mit Behinderung zu unterbinden? Allerlei abenteuerliche Legitimierungsversuche der Verweigerung von Sexualität bekommt man da zu hören, wenn man diese Frage stellt. Abenteuerliche, herabwürdigende und verstümmelnde Legitimierungsversuche. Legitimierungsersuche, die beinhalten einer Person einen Teil ihres Mensch-Seins abzusprechen wie etwa: „Die können doch keine Kinder aufziehen – da werden sie noch schwanger“ oder „Die können das doch nicht selbst entscheiden – Sexualität das verstehen die doch nicht“. Es ist nicht zu leugnen:

Sexualität gehört zum Menschen. Das erkennt die Charta der sexuellen und reproduktiven Rechte an, welche von der IPPF (International planned parenthood foundation) herausgegeben und in Österreich durch die ÖGF (Österreichische Gesellschaft für Familienplanung) zur Bewusstseinsschaffung verbreitet wird. Zudem ist Sexualität als Menschenrecht deklariert, was sich in der UN-BRK in Artikel 23 wiederfindet. Wenn wir also einig sind, dass Sexualität ein Teil des Menschen ist, wie kann die Verweigerung derselben gewaltlos sein? Wenn ein Mensch sich nicht ganzheitlich erfahren darf – und ja auch Masturbation oder gelebte Sexualität zwischen Menschen ist Teil ganzheitlicher Erfahrung des Mensch-Seins- wenn ein Mensch das nicht erfahren darf, obwohl er es erfahren möchte, wie kann er sein ganzes Potenzial entfalten. Wie kann er alles, was das Mensch-Sein bietet erfahren?

Eine Person unfreiwillig zu „asexualisieren“, kommt das nicht einem genauso gewaltvollen Akt gleich, wie einer homosexuell fühlenden Person das Ausleben deren Gefühle zu verweigern. „Ja, aber…“, höre ich es schon im hintersten Winkel meines Gehirns schreien „Ja, aber man kann doch niemanden zwingen, mit einer Person mit Behinderung Sex zu haben.“ Der Einwand klingt seltsam? Ist er auch. Und doch ist es oftmals der erste Einwand, den ich zu hören bekomme, wenn ich das Thema bei Personen anspreche, die sich noch nicht selbstständig damit beschäftigt haben. Ja natürlich kann man niemanden zwingen, mit einer anderen Person Sex zu haben. Da stimme ich selbstverständlich gänzlich überein. Aber weshalb haben wir das Thema gewechselt? Warum sprechen wir jetzt wieder über die Bedürfnisse nicht behinderter Menschen, anstatt über die beschnittenen Bedürfnisse und Recht von Menschen mit Behinderung? Haben wir tatsächlich soviel Angst davor, Personen mit Behinderung als sexuelle Wesen wahrzunehmen? Müssen wir ihnen tatsächlich unterstellen sie würden Sex mit nicht Konsens gebenden Menschen führen, wenn wir sie nicht asexualisieren. Wieso verknüpfen wir Sexualität von Behinderten Menschen mit Gewalterfahrungen – entweder in die eine oder in die andere Richtung?

Die Antwort liegt in der Frage selbst. Wenn wir Personen mit Behinderung nicht zuerst als Mensch mit menschlichen Bedürfnissen und Rechen ansehen und dann die Behinderung sehen, sondern umgekehrt, dann bilden sich die Lager Wir und Die. Wir, die Able-Bodied-People und Die, die Personen mit Behinderung. Dass die Mehrheitsgesellschaft das Narrativ von marginalisierten Gruppen schreibt und nicht die Gruppe selbst, ist bedauerlicherweise eine Realität, die wir leben. Und wir reproduzieren ein gewaltvolles Narrativ– das Narrativ des*r asexuellen Behinderten. Und ja, dieses Narrativ behindert wirklich. Es unterdrückt und schädigt Personen in ihrer somatischen und geistigen Entwicklung, in ihrer Ganzheit als Mensch. Und es wirkt sich ganz konkret auf die Lebensumwelt von Betroffenen aus.

Wenn Eltern oder Betreuungspersonen über das Fortbestehen einer Liebesbeziehung zwischen zwei Menschen entscheiden, die diese Beziehung auf Basis beiderseitigem Konsens führen und fortführen wollen, dann ist das gewaltvoll. Dieses Machtgefälle auszunutzen, und damit über das Erleben einer Person zu entscheiden ist gewaltvoll. Ihr ganzheitliches Erfahren des Mensch-Seins zu beschneiden und ihre Potenziale zu behindern, das ist gewaltvoll. Und wenn diese Handlung durch die Argumentation, „Wir wollen nicht, dass unsere (erwachsene) Tochter sexuellen Kontakt mit diesem Mann hat.“ auch noch wunderbar und mit Zustimmung vor der Gesellschaft argumentiert werden kann, dann ist das, obwohl ich nur die besten Intentionen unterstelle, personelle sowie strukturelle Gewalt unter dem Deckmantel von Fürsorge. Und so furchtbar diese Erfahrung für beide Personen in dieser Partnerschaft ist, so furchtbar ist es für uns alle. Denn zwei weitere Personen mit Behinderung, die ohne partnerschaftliche Liebe und Sexualität leben, obwohl sie es möchten, sind zwei weitere Menschen, die das gewaltvolle Narrativ des*r asexuellen Behinderten weitertragen.

Wie eingangs gesagt, ursprünglich dachte ich mir, es wäre eine gute Idee, diesen Beitrag mit einer Frage zu beginnen und diese dann anschließend zu beantworten. Und ganz zum Schluss, dachte ich mir, ich werde die Frage dann in einem Satz nochmal zusammenfassend beantworten, denn das klingt gut und macht die ganze Sache rund. Genauso, wie das mit dem Beantworten der Eingangsfrage ziemlich schwierig war, scheint es mir unmöglich, das Thema nochmal in einem Satz zu fassen und würde wohl der Feder einer erfahreneren Autor*in bedürfen. Aber eines kann ich für mich ganz klar beantworten:

Ist es gewaltvoll Sexualität zu unterbinden? – Ja.