Inklusion

Die Gratwanderung zwischen Gleichberechtigung und Hilflosigkeit

Hallo liebe Leserinnen und Leser, mein Name ist Tsekyi, ich bin 45 Jahre alt und arbeite bei der Sozialgruppe Kassel e. V. in der Kasseler Werkstatt, eine Werkstatt für Menschen mit (geistiger) Behinderung. In meinem Arbeitsalltag erlebe ich an meinem eigenen Beispiel, was Inklusion bedeutet und wie wichtig diese Art der Unterstützung ist.

Eine solche Werkstatt bietet nicht nur einen Arbeitsplatz. In erster Linie geht es darum, dass die betroffenen Menschen die Möglichkeit haben, soziale Kontakte zu knüpfen, Beziehungen zu pflegen und Anerkennung sowie Wertschätzung zu erfahren. Diese Teilhabe bringt die Menschen dazu, ein Leben zu führen, das so normal wie möglich ist.

Inklusion möchte erreichen, dass alle Menschen mit Behinderungen nicht mehr zurückgezogen, einsam oder gar versteckt leben müssen, wie es leider bis vor wenigen Jahrzehnten noch der Fall war, sondern auch ein Selbstbestimmungsrecht erhalten. Mittlerweile ist das Umdenken so weit fortgeschritten, dass auch das Recht der Eheschließung und der Familiengründung unangetastet bleibt, so wie es auch bei gesunden Menschen der Fall ist.

Doch bis zu welcher Stelle sind die betroffenen Menschen in der Lage, ein normales Leben zu führen? Bis wohin ist das Ziel der Inklusion sinnvoll? Muss es sein, dass ein Mensch in eine Lebensform gepresst wird, die vielleicht völlig überfordernd ist, nur um der Inklusion gerecht zu werden?

Gerade bei der Frage nach der Familiengründung wird deutlich, wie schmal der Grat sein kann. Wird den werdenden Eltern das Recht darauf zugesprochen, eine Familie zu gründen, sollte doch sichergestellt sein, dass das Kind gut behütet aufwachsen kann. Kann ein Mensch, dessen Behinderung eine geistige ist, ein Kind so verantwortungsvoll versorgen, wie es notwendig ist, damit das Kind gesund aufwachsen kann? Sind die Eltern dazu in der Lage, das Kind zu erziehen und zu fördern?

Eine Frage, die sich mir dabei aufdrängt lautet: Müssen die Eltern denn überhaupt dazu in der Lage sein alles perfekt zu meistern? Ist es nicht doch legitim dafür Hilfen von Familienangehörigen oder von Betreuern in Anspruch zu nehmen? Natürlich ist es das! Hierzu würde ich gerne ein Zitat des Musikers Michael Jackson erwähnen. Er sagte:

„Wenn du diese Welt mit dem Wissen betrittst, dass du geliebt wirst, und diese Welt mit dem gleichen Wissen verlässt, dann kann alles, was dazwischen passiert, bewältigt werden.“

Das Wichtigste, was Eltern ihrem Kind geben müssen, ist Liebe. In meinen Begegnungen mit den Mitarbeitern in der Werkstatt wird immer wieder sehr schnell klar, dass wirklich alle sehr liebevolle Menschen sind. Und solange klar ist, dass das Kindeswohl durch die Eltern nicht gefährdet wird, würde ich mich immer wieder dafür aussprechen, dass Menschen mit Behinderung auch gute Eltern sein können und es ein furchtbarer Übergriff auf die Menschenrechte bedeutet, wenn Kinder den Eltern ausschließlich wegen der vorhandenen Behinderung der Eltern entzogen werden.

Wo sich bei der Frage nach der Familiengründung für mich ganz eindeutige Antworten finden lassen, fällt es mir in anderen Situationen schwerer. Im Beispiel Liebe in der Werkstatt wird es komplizierter. Wenn Kollegen im Kampf um eine Frau gegenseitig aufeinander losgehen und es nicht nur zum Streit, sondern
auch zu körperlichen Auseinandersetzungen kommt, ist ein Eingreifen zwingend erforderlich. Ruhen sich Betreuer auf dem Argument der Inklusion aus, liegt da wohl ein Missverständnis seitens der Betreuer vor, denn es geht nicht um die Frage, ob in die Beziehung der Mitarbeiterin eingegriffen werden darf, sondern
um das Stoppen heftiger Auseinandersetzungen. Dabei ist es völlig unerheblich, was diese Auseinandersetzungen ausgelöst hat.

Wenn für Menschen mit Behinderung das Leben so normal wie möglich gestaltet werden soll, bedeutet das nicht, dass sie sich und ihrem Schicksal überlassen werden, weil sie ja frei bestimmen möchten. Es bedeutet auch nicht, dass sie in ein normales Leben gestopft werden, um dann völlig überfordert und hilflos zu sein. Inklusion bedeutet Teilhabe. Es geht darum, dass sie auch mit Hilfe aufgezeigter Grenzen geschützt werden. Menschen, bei denen die Behinderung auf geistiger Ebene liegt, sind in vielen Lebenslagen nicht in der Lage die richtigen Entscheidungen zu treffen. Dabei benötigen sie genau die Hilfe, die auf ihre Persönlichkeit, auf ihre Einschränkung und vor allem auf ihre Bedürfnisse abgestimmt ist. Individuell. Denn genau das ist es, was Inklusion überhaupt erst möglich macht.