Die Angst der Eltern ihre Erwachsenen Kinder / Menschen mit Behinderungen loszulassen
Anmerkung: ich werde MmB als Abkürzung für Menschen mit Behinderungen verwenden
Ich möchte diesen Blogeintrag in drei Teile gliedern, die aus einem historischen Hintergrund, der Zeit von Anfang 1960 bis ca. der Jahrtausendwende, und zum Schluss der Zeit ab 2000 bis zur heutigen Zeit mit einem Ausblick in die Zukunft, bestehen. Das klingt erst mal sehr wissenschaftlich (und wird auch durchaus einige solcher Elemente beinhalten), aber vor allem möchte ich euch durch meine autobiografischen Erzählungen in diesem Beitrag ein Stück weit mit in meine Welt führen – nicht nur durch die Brille der Wissenschaft, sondern viel mehr durch die eines realen Lebens wollte
Ein Mann lebt seit seinem 16. Lebensjahr in diversen Wohneinrichtungen, hat dadurch einiges an Erfahrungen – das war im Zeitraum von Ende der 1980 Jahre eigentlich bis heute. Der Mann hatte immer ein starkes Bedürfnis nach Nähe und Liebe, verliebte sich auch immer wieder in verschiedene Frauen – meistens in Praktikantinnen und Betreuerinnen aber ohne irgendwelche Forderungen und Erwartungen zu haben. Der Mann ist sehr schüchtern und traut sich nicht aktiv auf Menschen zu zugehen. Schon in der Schulzeit hatte er Probleme Kontakt mit seinen weiblichen Mitschülerinnen aufzunehmen und es kam zu teilweise unbequemen Situationen mit unbedarften Äußerungen des damals jungen Mannes, der keine Erfahrungen im Umgang mit seinen Mitschülerinnen hatte. Später zu seiner Lehrzeit änderte sich nicht viel und das blieb bis Anfang der 1990 Jahre, wo er sich ernsthaft in eine Kollegin bei der Arbeit verliebte. Diese Beziehung war scheu geführt, Sexualität spielte zu dem damaligen Zeitpunkt keine oder nur eine sehr untergeordnete Rolle, weil die Freundin das nicht wollte bzw. ihre Eltern da strikt dagegen waren, dass die Tochter privaten Kontakt mit Männern hat.
Erst um die Jahrtausendwende wendete sich die Situation ein wenig, wieder einmal kam eine neue Kollegin die den Mann unbedingt zum Kaffee zu sich nachhause einladen wollte, wo sich daraus eine Beziehung entwickelt hatte. Die Eltern waren prinzipiell einverstanden hatten aber dann, als der Mann seine Wohnsituation änderte, die Beziehung beendet. Dann lernte der Mann eine neue Frau kennen mit der er jetzt zusammenlebt.
Bei meiner Geschichte über den Mann, fällt wohl besonders auf, dass obwohl die Beziehungen zwischen dem Mann und einer Frau verliefen, jedes Mal die Eltern der Frauen über das Fortbestehen der Beziehungen entschieden. Ein Zufall? Ein Einzelfall? Wohl kaum. Aber sehen wir uns zunächst an, wie das alles begann.
1. Im 19. Jahrhundert fing die Forschung an, langsam tätig zu werden. MmB wurden weitestgehend in psychiatrischen Anstalten isoliert und mussten teilweise unter widrigsten Umständen vor sich hinvegetieren. Jeder, derdie sich mit dem Thema ein bisschen beschäftigt, kann sich an die Bilder von Gitterbetten mit vorgespanntem Netz erinnern. Jegliche Emotionen wurden mit Medikationen wegtherapiert und von Sexualität war gar nicht zu sprechen bzw. galt es als abnormal. Es wurde MmB nicht zugestanden, Wesen mit Bedürfnissen und Emotionen zu sein.
Natürlich können wir heute nicht mehr nachvollziehen, wie sich Eltern von MmB damals gefühlt und was sie gedacht haben. Es scheint, als waren sie oft überfordert und erleichtert, wenn die ‚Schande der Familie‘ von ihnen genommen und ein Mantel des Schweigens über das Kapitel gelegt wurde. In manchen Regionen werden MmB teilweise bis heute eher versteckt.
2. Ab den 1960ern bis in die 1980er war es so, dass MmB wortwörtlich am Rande der Gesellschaft in extra für sie geschaffenen Arbeits- und Wohneinrichtungen am Rand von Städten oder am Land in künstlich schöner Umgebung untergebracht wurden.
Die freie Liebe, die in den 1960er Jahren so groß gefeiert wurde, ist spurlos an den in Einrichtungen lebenden MmB vorübergegangen. Sexualität spielte eine untergeordnete Rolle und wurde sehr oft als sehr problematisch angesehen.
Ab den 90er Jahren geschahen einige Veränderungen. Es wurde begonnen, kleinere Wohngruppen zu gründen und Sexualität spielte eine immer größere Rolle. Auch in den Medien wurde dieses Thema immer populärer, innerhalb der Werbung setzte man statt Alkohol und Zigaretten auf Sex als Werbeträger. Das führte wiederum bei Menschen, bei denen das Thema Sex stark tabuisiert wurde, zu massiven Anspannungen und auch Wünschen – es entstand oftmals zum Beispiel das Phantasiebild „Ich bin der*die da am Plakat und kriege diese tolle Frau oder Mann“.
Nach und nach wurde die Gesellschaft langsam offener diesem Thema gegenüber und so wurde auch die öffentliche Diskussion darüber intensiver; das führte auch zu durchaus heftigen Sehnsüchten, die kaum bis gar nicht ausgelebt werden konnten, so kam es auch immer wieder zu Übergriffen von MmB gegenüber dem Betreuungspersonal. Auch die Situation der Eltern stellte sich als sehr schwierig dar, da sie sich mit dem Problem konfrontiert sahen, dass ihre erwachsenen ‚Kinder‘ Regungen zeigten, die sie als Eltern überforderten. Das Hilfsangebot der Einrichtungen war damals von Inklusion, wie wir sie heute kennen, noch weit entfernt – und selbst heutzutage wird noch versucht(!), dieses Konzept ganzheitlich und flächendeckend umzusetzen.
Die Eltern wandten sich also oftmals an die Einrichtungen und wurden von diesen mit dem Hinweis abgespeist, sie seien dafür nicht zuständig. Oft bekamen die Eltern auch Vorwürfe zu hören a la „Ihr ‚Kind‘ ist schwierig“ (was heutzutage übrigens immer noch oft genug vorkommt). Kurz gesagt, es wurden viele Elterngespräche in den Einrichtungen geführt, die sehr problematisch waren; das Betreuungspersonal fühlte sich in ihren Kompetenzen eingeschränkt, die Eltern missverstanden, und die MmB schauten sprichwörtlich durch die Finger.
Wenn dann zwei MmB sich liebten und zusammenfanden, blieb ihnen oftmals (durch verschiedene Gründe wie bspw. ihre Eltern) nichts anderes übrig, als sich heimlich in verschwiegenen Ecken zu treffen, um zusammen kuscheln zu können oder Zärtlichkeiten auszutauschen – Dinge, die zwei sich liebende Menschen nun mal machen. Auch ich ‚durfte‘, musste, solche Erfahrungen erleben und LEBEN. Zusammenwohnen war – wenn überhaupt – nur im Rahmen der Wohneinrichtungen möglich und da war ständige Kontrolle ganz ‚normal‘. In Absprache mit dem Betreuungspersonal war es aber auch durchaus möglich, sich im Zimmer zu treffen. Unter der Voraussetzung, dass auch die Eltern einverstanden waren und genaue Vereinbarungen getroffen wurden. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass die meisten Eltern allerdings dagegen waren…
3. Die heutige Situation stellt sich aus meiner Erfahrung folgendermaßen dar: Es gibt und gilt die UN-Behindertenrechtskonvention. Inklusion ist ebenfalls ein großes Thema. Das sind leider oft lauter schöne Worte, mit denen sich viele schmücken und meinen, sie in ihren Einrichtungsleitbildern integriert zu haben – das haben sie wahrscheinlich auch. Die Umsetzung steht auf einem anderen Blatt. MmB werden, obwohl sich die Arbeits- und Wohnsituation deutlich verbessert haben, durchaus noch schräg angeschaut, bei Einkäufen oder bei öffentlichen Veranstaltungsbesuchen, vor allem dann, wenn sie offen zeigen in einer Partnerschaft zu sein, Händchen-Halten oder gar einen kleinen Kuss wagen. Eine schöne Entwicklung ist, dass die Offenheit, zumindest in Fachkreisen, für heikle Themen und Tabus heutzutage wesentlich größer ist als zuvor. Pärchen können in kleinen Wohneinheiten zusammenleben und werden nach einigen Reformen, in der das Betreuungspersonal neue Wege geht, individueller betreut werden. Ja, Sexualität ist nach wie vor stark tabuisiert, aber ein Umdenken findet langsam statt. Die Eltern sind, meiner Erfahrung nach, nach außen hin offener. Teile der Gesellschaft diskutieren endlich öffentlich. Es gibt vermehrt inklusive Veranstaltungen, speziell an den Universitäten, was mich sehr freut, aber es gibt noch viel zu tun, zu scheiben und zu sagen. Es gibt eine ganze Palette an Lösungsansätzen wie Prävention, erweiterte Therapieangebote, Projekte mittlerweile auf vielen Gebieten.
Und das ist auch gut so – die Liebe wird zwar ewig leben, aber es wäre doch sehr schön, wenn die Akzeptanz von Paarbeziehungen in Wohneinrichtungen nicht ganz so lange dauert.